
Inseln – ein Phänomen, das so wundersam und gleichzeitig auch so schrecklich sein kann. Die erste Assoziation, wenn von einer Insel im Pazifik die Rede ist, malt in unseren Gedanken weiße, weite Strände feinsten Sandes, hohe Palmwipfel, die im leichten Wind rauschen, seichtes, blaues Wasser, das warm die nackten Füße umspült, Sonnenschein von morgens bis abends und das Gefühl von Freiheit.
Man möchte für immer in diesem Postkartenmotiv leben…
Wie verrückt, dass diese Vorstellung sofort ihren Zauber verliert, wenn die Insel zu einem Ort wird, von dem man sich nicht mehr entfernen kann. Die Postkarte wieder verlassen? Wie, wenn kein Boot da ist? Wenn niemand weiß, dass man sich auf diesem einen unbewohnten Eiland befindet? Das Gefühl von Freiheit verkehrt sich ruckartig ins Gegenteil und man fühlt sich an einem so zauberhaften Ort wie in einem Gefängnis.
Und dann droht alles einzustürzen: die Hoffnung auf Rettung, das zivilisierte Leben, die eigene Gesundheit, der eigene Verstand.
J.P.
William Golding gelingt es mit einfachen und doch gewaltigen Worten, diese zwei Inselwelten zu beschreiben. Eine Gruppe von Jugendlichen – nur Jungen – landet nach einem Flugzeugabsturz in dem oben beschriebenen Postkartenmotiv und genießt zunächst die Freiheit, das Urlaubsparadies fern von jeglichen Erwachsenen. Man kann im Sand Burgen bauen, man kann schwimmen, man kann in den Dschungel laufen und feinste Früchte verspeisen, man findet Muscheln und vielleicht neue Freunde. Doch sobald die Früchte Bauchschmerzen bereiten, man nachts in der Dunkelheit Angst bekommt, erste Streitereien entstehen, das Heimweh größer wird und die Sonne die Haut verbrennt, sehnt man sich ein Schiff herbei, das Rettung verspricht.
Diese einzige Hoffnung, dass ein Schiff am Horizont vorbeifährt und die Gestrandeten entdeckt, beschäftigt vor allem Ralph, den die Gruppe zu Beginn zum Anführer ausruft. Er darf entscheiden, was passiert, er kann mittels eines Muschelhorns zu Versammlungen rufen und Aufgaben delegieren. Hütten als Schutz vor Wind und Regen sollen gebaut werden und es braucht ein dauerhaftes, rauchendes Feuer, damit ein Schiff – die einzige Hoffnung – vor der Insel ankert. Doch Ralph merkt schnell, dass die kleinen Jungen von sechs Jahren keine große Hilfe sind und dass manche von den Großen lieber weiter das Inselleben genießen wollen und das Feuer vernachlässigen. Besonders Jack, dem es von Anfang nicht passt, dass Ralph Anführer ist, entpuppt sich im Verlauf der Geschichte als gewaltbereiter Junge mit diktatorischen Zügen. Er gründet schließlich einen eigenen Stamm von „Wilden“ und nennt sich „Häuptling“, droht seinen Untergebenen mit Schlägen und stachelt sie zur Schweinejagd an. Es bleibt jedoch nicht dabei, dass der Stamm Schweine jagt. Zwei Jungen werden im Blutrausch getötet, sodass am Ende nur noch Ralph der einzige mit Verstand bleibt und in einer packenden Hetzjagd vor den anderen quer über die Insel fliehen muss. Werden sie auch ihn umbringen? Und was dann?
Dieser Roman beginnt langsam. Doch das Fieber packt den Leser trotzdem von Anfang an. Und obwohl die Geschichte grausam ist, muss man sie zu Ende lesen. Man kann nicht glauben, was passiert, wozu Jugendliche fähig sind, und auf der anderen Seite weiß man, dass es gar nicht so unwahrscheinlich wäre, und dann leidet und bangt man mit Ralph, dem Letzten, dem, der sich noch an ein zivilisiertes Leben erinnert, als sie noch Schuljungen waren und Gesetzen folgten. Eine wirklich gelungene Robinsonade, die nachdenklich stimmt und der man sich nicht entziehen kann – vor allem zum Ende ein „Pageturner“.
J.P.