
Wo trifft man sonst eine so große Vielfalt von Menschen oder auch eine Vielzahl an Sprachen?
Er steigt in die U-Bahn und quetscht sich durch die Menschenmassen, um an der gegenüberliegenden Tür Halt zu finden. Neben ihm ein Geschäftsmann mit Headset am Kopf, vor ihm eine afrikanisch gekleidete Frau mit Kleinkind vor der Brust. Rechts neben ihm ein pubertierendes Mädchen mit pink gefärbten Haaren. Er sieht sich um und fragt sich, was er eigentlich hier tut. Dann das laute, sich wiederholende Warnsignal und die Türen der Metro schließen sich. Die Fahrt geht los. Seine Hand greift vor der nächsten Kurve automatisch an den Haltegriff über ihm, das Licht wechselt von dunkel zu dunkler, alle Passagiere schunkeln im Takt des Gefährts. Nächster Halt: Bastille. Hier muss er raus. Vorbei an Mutter und Kind hinaus auf den Bahnsteig. Der Arbeitstag ist vorbei. Schnell kauft er noch ein Baguette und etwas Käse – vielleicht einen Wein? Wozu? Mit wem soll er ihn teilen? Dann geht er nach Hause. Am nächsten Tag steigt er wieder in die U-Bahn. Ligne 1. Auf zur Arbeit. Der Louvre wartet. Massen von Menschen, die eigentlich keine Ahnung von Kunst haben. Massen von Menschen, die nur kommen, um die Mona Lisa zu fotografieren. In der U-Bahn heute neben ihm eine alte Dame, die strickt. Er bewundert, dass sie dies in den Kurven so gut kann, und fragt sich, ob die Streifen dadurch schief werden. Hinter ihm ein Typ Mitte Zwanzig, der lautstark telefoniert. Er spricht kein Französisch. Weiter hinten zwei Teenies, die große Kaugummiblasen machen. Nächster Halt: Louvre – Rivoli. Hier muss er raus. Die Arbeit ruft. Feierabend um 16 Uhr. Ligne 1 bis Bastille. Schnell noch ein Baguette. Une tradition. Ein paar Trauben und heute kauft er ihn. Eine Flasche Rotwein. Ab nach Hause. Schuhe aus. Licht aus. Welt aus. Am darauffolgenden Tag wecken ihn die zwitschernden Vögel. Die Sonne steht höher als sonst am Morgen. Beim Blick auf den Küchentisch, die letzten Krümel des Baguettes, der geleerten Flasche Wein dreht er den Kopf und überprüft den Wecker. Er hat verschlafen. Schon 8 Uhr. Rein in die Klamotten. Raus aus dem Appartement. Ab in die Metro. Ligne 1 bis Louvre – Rivoli. Die Metro ist fast leer. Alle sind schon bei der Arbeit oder in der Schule. Ein alter Herr döst auf einem Sitz. Man kann die Sitze sehen. Das kennt er gar nicht. Erste Station: St. Paul. Die Türen öffnen sich. Nur eine Person steigt ein. Ein Hauch von Vanille weht ihm in die Nase. Er blickt genauer hin, doch der Urheber des feinen Dufts hat sich bereits mit dem Rücken zu ihm gesetzt. Er erkennt von hinten, dass es sich um eine Frau mit glatten, glänzenden, fast schwarzen Haaren handelt. Der Arbeitstag fällt schwerer als sonst. Sein Chef hat ihn getadelt, weil er zu spät gekommen ist. Er muss nun natürlich auch eine Stunde länger bleiben. Dann kommt er in die Rushhour. Der Wein ist schuld. Auf dem Weg nach Hause ist die U-Bahn zum Bersten voll. Er kann gar nicht alle Eindrücke, Gerüche einfangen, und schließt deshalb einfach die Augen. Erster Halt: Châtelet. Die Türen öffnen sich. Vanille. Er öffnet die Augen. Er ist sicher. Es ist der gleiche Geruch wie am Morgen. Er sucht sie mit seinen Augen und entdeckt sie nur mit der Nase. Die Bahn ist zu voll, als dass er sie entdecken könnte. An seiner Haltestelle ist der Geruch verflogen. Er kauft heute keinen Wein zum Baguette, auch keine Trauben. Er geht direkt in die Bar, um sich ein Bier zu gönnen. Er kann nur an Vanillekipferl, Vanilleeis und Vanillestangen denken. Der nächste Morgen beginnt wie immer. Dazu regnet es. In der Metro stinkt alles nach nassem Hund. Keine Vanille. Die nächsten Wochen regnet es viel. Es wird morgens immer dunkler. Die Metro platzt aus allen Nähten. Auch der letzte Umweltliebhaber lässt das Rad stehen, um die U-Bahn zu nutzen. Der Chef ist wieder zufriedengestellt. Mit dem Wetter kommen mehr Kunden. Der Louvre ist trocken. Am Morgen des 24. Dezember ist sein letzter Arbeitstag. Danach hat er Urlaub. Fährt aufs Land. Zur Familie. Endlich keine Ligne 1 ein. Keine Bastille. Kein Baguette allein. Keine Metro. Er fühlt sich krank. Hatte die letzten Tage keinen Schal und keine Mütze getragen. Sein Chef wünscht ihm schöne Weihnachten und hat noch ein Anliegen. Könnten Sie bitte heute eine Stunde länger bleiben? Ich muss nach Brüssel zu meinen Eltern. Ich schaffe es sonst nicht rechtzeitig... Klar, warum nicht. Er hustet kräftig. Mit mir kann man es ja machen. Ich habe ja nur mein Appartement, mein Baguette und gelegentlich den Wein. Und bin krank. Der Chef bedankt sich überschwänglich und geht. Der Louvre leert sich. Er schließt hinter dem letzten Besucher ab. Er macht den letzten Gang zur Mona Lisa, um zu kontrollieren, dass sie noch da ist. Zu oft wurde sie gestohlen. Seine Nase läuft. Er hat kein Taschentuch. Dann schlurft er zur U-Bahn. Am Gleis ist es wie ausgestorben. Alle sind bereits bei ihren Familien um den Weihnachtsbaum. Er sieht sie im Geiste vor sich. Die Kinder mit ihren lachenden Augen. Die Mütter mit dem dampfenden Essen. Die Väter mit Feuerzangenbowle in der Hand. Er wird nicht zu seiner Familie fahren. Das hat er entschieden. Ligne 1 hält an. Die Türen öffnen sich. Er steigt ein, blickt sich um und ist alleine. Das ist unmöglich in Ligne 1. Es ist kalt. Er zieht die Schultern hoch und versteckt seine Nase hinter dem Kragen seines Mantels. Das Gefährt rattert los. Nächster Halt: Châtelet. Er sieht nicht auf, als sich die Türen öffnen, und hustet in seinen Mantel. Er bemerkt, dass sich jemand neben ihn setzt und blickt trotzdem nicht auf. Er sieht nur die Schuhe. Schwarze Wildlederstiefel mit Absatz. Noch jemand, der deprimiert an Weihnachten die Metro benutzt. Nächster Halt: Bastille. Er zieht die Nase hoch. Plötzlich wird er von der rechten Seite angestupst. Monsieur, brauchen Sie ein Taschentuch? Er blickt in das Gesicht einer jungen Frau. Oder möchten Sie vielleicht ein Vanilleplätzchen?