Sturkopf und Meckerliese (2015)

Dieses Bild habe ich 2021 im Hochschwarzwald aufgenommen.
Ob diese Ziege auch eine Meckerliese ist?

Es war einmal ein störrischer Esel und eine ständig meckernde Ziege. Die beiden lebten den Sommer über auf der Alm mit vielen anderen Tieren. Mit den wolligen Schafen, den gackernden Hühnern, dem herumstolzierendem Hahn, den gefleckten Kühen und dem bellenden Hofhund.

Alle Tiere waren die besten Freunde. Außer… der Esel und die Ziege. Die beiden hatten ständig Streit. Den ganzen Tag. Von morgens bis abends. Wer war stärker? Wer bekam das leckerste Futter? Wer war der Schnellste? Deswegen nannten die anderen Tiere auch den Esel „Sturkopf“ und die Ziege „Meckerliese“.

Eines Tages, als sich Sturkopf und Meckerliese wieder einmal stritten, wer als Erster beim Wettrennen das Ende der Weide erreicht hatte, wurde es dem Hofhund zu bunt. Er stürmte aus seiner Hundehütte heraus, machte einen gewaltigen Sprung über den Zaun der Weide und bellte die beiden Streithähne wie verrückt an: „Jetzt reicht es aber, ihr Zwei. Jeden Tag müssen wir uns euer Gezanke anhören. ICH bin hier der Hofhund und sage euch hiermit, dass ihr aufhören müsst, euch zu streiten.“

„Tzzz… was fällt dir ein?“, meckerte Meckerliese. „Der Esel will einfach nicht zugeben, dass ich schneller bin als er. Wenn er nicht so stur wäre, müsste ich auch nicht meckern.“

„Wie bitte?“, rief der Esel empört. „Die Ziege spinnt. Welche Ziege ist denn bitte schneller als ein Esel? Sie will nur nicht zugeben, dass sie nichts kann, außer den ganzen Tag zu meckern. Blöde Meckerliese!“ „Doofer, sturer Esel“, pfefferte die Ziege zurück. Und schon hatte sie ihren Kopf bis auf den Rasen geduckt und wollte mit ihren Hörnern auf den Esel lospreschen.

Doch der Hofhund hatte bereits geahnt, dass er die beiden nicht zur Vernunft bringen konnte. Er stürmte zurück von der Weide in den Stall und vereinbarte mit den anderen Tieren ein geheimes Treffen.

Am nächsten Morgen, als es draußen auf der Alm noch stockdunkel war und die Sternlein noch zu sehen waren, weckte der Hofhund die anderen Tiere. Ganz leise, um nicht Meckerliese und Sturkopf aufzuwecken, schlichen der Hofhund, der Hahn, die Hühner, die Schafe und die Kühe hinter den Stall.

„Meine lieben Freunde“, flüsterte der Hofhund. „Als Stellvertreter des Bauern muss ich darauf aufmerksam machen, dass es mit Meckerliese und Sturkopf nicht so weitergehen kann. Ich bitte um eure Vorschläge, was wir unternehmen können.“

Der Hahn nickte zustimmend, plusterte sein Gefieder auf und sagte mit tiefer Stimme: „Es gibt keine andere Lösung: Wir müssen den Esel und die Ziege jeder an einen Baumstamm festketten, damit sie nicht mehr aufeinander losgehen können.“

Die Hühner gackerten und lachten. Ein braun-weißes unter ihnen sagte zum Hahn: „Ich dachte, du wärst ein schlauer Hahn. Stell dir vor, die beiden sind angekettet. Sie können zwar nicht aufeinander losgehen, aber sie könnten sich immer noch lauthals streiten, schreien und brüllen, was bedeutet, dass wir uns immer das nervige Gezanke anhören müssen.“

„Die Hühner haben Recht“, brummte der Hofhund. „Habt ihr einen anderen Vorschlag?“

Alle tuschelten miteinander und zeigten ihre ratlosen Gesichter. Bald ging die Sonne auf und der Hahn krähte dreimal, wovon der Esel und die Ziege wach wurden.

Schon vor dem Frühstück ging es wieder los. Meckerliese und Sturkopf stritten sich um eine besonders saftig grüne Ecke auf der Weide. Jeder von den beiden wollte das beste Gras für sich alleine haben und ehe der Hofhund dazwischen gehen konnte, kämpften die beiden gegeneinander.

So ging es noch einige Tage weiter. Jede Nacht lag der Hofhund lange wach und überlegte, warum sich der Esel und die Ziege überhaupt stritten. Plötzlich ging ihm ein Licht auf. Er konnte es kaum erwarten, am nächsten Morgen Meckerliese und Sturkopf zu wecken, um mit ihnen zu reden.

„Liebe Ziege, lieber Esel, ich glaube, ich habe verstanden, warum ihr euch ständig streitet. Ihr wisst nämlich gar nicht, was ihr sonst machen sollt. Überlegt doch einmal, was die anderen Tiere auf dieser Alm den ganzen Tag lang machen.“ Der Hofhund spitzte die Ohren.

Meckerliese überlegte und sagte schließlich: „Die Hühner sitzen nur auf der Stange.“

„Genau“, sagte der Esel „und die Kühe stehen blöd herum.“

Meckerliese sagte wieder: „Die Schafe fressen nur die Wiese weg und der Hahn stolziert auf dem Misthaufen herum.“

Der Hofhund hatte mit diesen Antworten gerechnet. Er holte tief Luft und sprach zu den Beiden: „Ich habe mir gedacht, dass ihr so etwas sagt. Ziemlich traurig. Weil ihr euch den ganzen Tag nur streitet, könnt ihr gar nicht sehen, wie viel Arbeit die anderen Tiere auf dieser Alm leisten.“

Meckerliese wollte gerade losmeckern, da hielt ihr der Hofhund die Pfote vor das Maul.

„Die Hühner sitzen nicht nur auf der Stange; sie legen viele, viele Eier in ihre Nester, die der Bauer jeden Morgen abholt“, erklärte der Hofhund.

„Na und?“, wollte der Esel gelangweilt wissen.

„Der Bauer kann diese Eier auf dem Markt verkaufen. Dafür bekommt er Geld. Und von diesem Geld kann er Futter für uns Tiere kaufen.“

Der Esel und die Ziege guckten sich verwundert an. Bevor sie nach den anderen Tieren fragen konnten, sprach der Hofhund weiter.

„Der Hahn stolziert nicht nur auf dem Misthaufen herum; er ist unser Wecker. Wenn der Hahn nicht wäre, würden wir den ganzen Tag verschlafen.“ Gespannt wartete der Hofhund, ob Meckerliese etwas zu meckern hatte. Aber sie und der Esel blieben ganz still und warteten gespannt, bis der Hofhund weitersprach.

„Die Schafe fressen nicht nur den ganzen Tag Gras; sie verschenken ihre Wolle, damit daraus Pullover und Schals für den Winter gestrickt werden können. Wenn die Schafen nicht wären, dann müssten die Menschen frieren.“

„Und die Kühe?“, wollte der Esel wissen.

„Ja, genau, und die Kühe?“, wollte auch die Ziege wissen.

„Die Kühe geben jeden Tag ganz viel Milch. Auch die kann der Bauer auf dem Markt verkaufen. Aus dieser Milch wird Käse, Quark und Joghurt gemacht, den die Menschen essen können.“

„Boah“, machten die Ziege und der Esel gleichzeitig.

Ohne ein weiteres Wort lief der Hofhund davon und ließ die beiden alleine.

Meckerliese sah den Esel an und fragte: „Wenn alle diese Tiere den ganzen Tag lang auf der Alm etwas Sinnvolles, etwas Gutes tun, was machen wir denn dann Gutes?“

Der Esel starrte in die Luft und zuckte mit den Schultern. „Was können wir schon tun? Ich kann keine Wolle, keine Eier, keine Milch geben und ich kann auch nicht den Wecker spielen.“

„Das kann ich auch alles nicht“, sagte die Ziege traurig. „Und wir können auch nicht wie der Hofhund auf alles aufpassen.“

Lange Zeit saßen der Esel und die Ziege ganz still auf der Weide und überlegten, was sie tun könnten, um auch ein bisschen auf der Alm zu helfen. Dabei merkten sie gar nicht, dass sie sich noch nicht einmal gestritten hatten. Das merkten aber die anderen Tiere. Sie konnten die Stille genießen und in aller Ruhe ihrer Arbeit nachgehen.

Am späten Nachmittag, als die Sonne schon fast wieder untergegangen war, liefen der Esel und die Ziege zur Hundehütte, doch sie stand leer. Zusammen suchten die beiden überall und fanden den Hofhund im Stall, wo er mit allen anderen Tieren zusammensaß. Zuerst traute sich keiner der beiden etwas zu sagen. Dann gab der Esel der Ziege einen kleinen Stups.

Sie sagte: „Der Esel und ich haben lange überlegt. Wir wissen gar nicht, was wir tun können. Ihr alle habt eine Arbeit. Jeden Tag macht ihr etwas Gutes für den Bauern. Und wir beide machen gar nichts.“

„Und?“, wollte der Hofhund wissen.

„Was können wir tun?“, fragte der Esel.

„Es wäre einfach schön, wenn ihr uns allen ein bisschen helfen könntet“, sprach der Hofhund. „Ihr beide seid sehr stark. Wenn mal wieder die Stalltür klemmt, könnt ihr sie aufbrechen. Und wenn der Fuchs es mal wieder auf die Hühner abgesehen hat, könnt ihr mir helfen, ihn zu vertreiben.“

Und von dem Tag an, als der Esel und die Ziege bemerkt hatten, dass sie für die anderen Tiere und für den Bauern eine große Hilfe sein konnten, hatten sie ganz vergessen, sich zu streiten. Zusammen hievten sie im Herbst jeden umgefallenen Baumstamm von der Weide und schoben den Traktor an, als er im Winter nicht starten wollte. Zusammen mit dem Hofhund schlugen sie jeden Fuchs in die Flucht und brachen die Stalltür auf, wenn sie mal wieder klemmte.

Die anderen Tiere waren begeistert. Sie nannten von nun an den Esel nicht mehr „Sturkopf“ und die Ziege nicht mehr „Meckerliese“.